Schätzungen zufolge leben heutzutage eine bis zwei Millionen verschiedene Arten im Meer. Tatsächlich bekannt, das heißt wissenschaftlich beschrieben und im World Register of Marine Species (WORMS) gelistet, sind davon aktuell rund 248.900 Arten, also maximal ein Viertel. Pro Jahr kommen im Durchschnitt rund 2330 neu entdeckte Meeresarten hinzu, und ein Ende des Artenzuwachses ist nicht in Sicht, weil viele Meeresregionen, Ökosysteme und Organismengruppen bislang kaum genauer erforscht sind.
Biodiversität und Artenreichtum
Als gesund und widerstandsfähig gelten Meere, wenn ihre Lebensgemeinschaften eine große Vielzahl von Arten beherbergen, die sich in ihren Erbanlagen, in ihrem Aussehen und in ihren Eigenschaften und Funktionen unterscheiden. Fachleute sprechen in diesem Fall von hoher Biodiversität – ein Begriff, der sich von der englischen Wortgruppe „biological diversity“ (übersetzt: biologische Vielfalt) ableitet. Er ist in den zurückliegenden 30 Jahren zu einem der wichtigsten Konzepte im Umweltschutz und -management aufgestiegen und heutzutage sowohl in Politik und Gesellschaft als auch in den Medien und in der Wissenschaft in aller Munde.
Der Weltbiodiversitätsrat IPBES (Intergovernmental Science-Policy Platform for Biodiversity and Ecosystem Services) definiert Biodiversität als die Vielfalt unter lebenden Organismen jeglicher Herkunft, einschließlich terrestrischer, mariner und anderer aquatischer Ökosysteme und der ökologischen Komplexe, zu denen sie gehören. Diese Vielfalt umfasst Variationen in genetischen, morphologischen, stammesgeschichtlichen und funktionellen Merkmalen sowie Veränderungen in der Häufigkeit und Verteilung im Laufe von Zeit und Raum innerhalb von und zwischen Arten, Lebensgemeinschaften und Ökosystemen.
Kurz gesagt: Der Begriff Biodiversität bezeichnet die Diversität innerhalb von Arten, zwischen Arten sowie zwischen Lebensräumen und Ökosystemen.
Begriffe wie Artenvielfalt, Artenreichtum oder biologische Vielfalt werden häufig synonym zu Biodiversität verwendet. Wie die IPBES-Definition zeigt, ist das Konzept der Biodiversität jedoch umfassender. Artenvielfalt und Artenreichtum stellen beide lediglich ein Maß für die Anzahl an Arten dar – in einem bestimmten Ökosystem, einem Lebensraum oder aber auch in einer wissenschaftlichen Probe. Streng genommen bilden sie damit nur einen Teilaspekt der Biodiversität ab.
Vielfalt auf allen Ebenen
Wenn Fachleute über die Biodiversität des Meeres sprechen, verstehen sie darunter die Vielfalt des Lebens in allen Komponenten mariner Ökosysteme sowie auf allen Ebenen der biologischen Organisation – angefangen bei den Genen und Populationen bis hin zu Einzelarten, Artengemeinschaften und Ökosystemen.
- Genetische Vielfalt und individuelle Merkmalsunterschiede innerhalb von Populationen erlauben es den Arten des Meeres, ihr Verhalten und ihren Lebensrhythmus an die jeweiligen Umweltbedingungen vor Ort anzupassen.
- Unterschiede zwischen einzelnen Arten werden deutlich, indem die Organismen unterschiedlich aussehen, eine unterschiedliche Entwicklungsgeschichte aufweisen, verschiedene Lebensräume besiedeln und darin unterschiedliche Rollen und Funktionen einnehmen.
- Die Vielfalt der Lebensgemeinschaften und Ökosysteme wiederum beruht darauf, dass Arten in unterschiedlicher Zusammensetzung miteinander oder nebeneinander leben und sich zudem auf unterschiedliche Art und Weise gegenseitig beeinflussen oder voneinander abhängen.
Die Bedeutung der Biodiversität im Meer
Gesunde und stabile marine Lebensgemeinschaften erbringen für uns Menschen überlebenswichtige Dienstleistungen. Sie liefern Sauerstoff zum Atmen, Nahrung zum Essen oder Schutz vor Überflutungen. Eine hohe Biodiversität ist dabei unerlässlich für das gute Funktionieren eines Ökosystems. Sie macht Lebensräume produktiver und widerstandsfähiger gegen äußere Bedrohungen wie Veränderungen in der Umwelt.
Eine hohe Biodiversität garantiert, dass ein Lebensraum optimal genutzt werden kann. Das liegt daran, dass verschiedene Arten unterschiedliche Ansprüche zum Beispiel an Licht oder Temperatur haben. So gibt es Großalgen, die viel Licht mögen und bei hoher Sonneneinstrahlung optimal wachsen. Andere Großalgen wiederum bevorzugen lichtärmere Regionen in einem Lebensraum. Sie gedeihen am besten im Schatten der lichtliebenden Arten. Zusammen bilden sie einen dichten Algenwald, der viel mehr Nahrung und Verstecke für Meerestiere bietet als eine Großalgenart allein.
Die Arten in einer Lebensgemeinschaft kommen dabei nicht alle gleich oft vor. Häufig dominieren einige wenige Arten, während es daneben viele seltenere Arten gibt, die sich im Selektionsprozess nicht durchsetzen konnten, die aber auch nicht verschwunden sind. Sie können eine wichtige Rolle bei Störungen spielen: Ändern sich die Umweltbedingungen, haben sie plötzlich einen Vorteil und können die Rolle der dominierenden Art übernehmen.
Fact Sheet Biodiversität
Ausführliche Informationen darüber, wie sich die Biodiversität mariner Lebensgemeinschaften verändern kann und wie diese Veränderungen jeweils zu bewerten sind, hat das Helmholtz-Institut für Funktionelle Marine Biodiversität (HIFMB) zusammengestellt:
Im Meer gibt es aber auch einige Lebensräume, die extreme Umweltbedingungen haben. Etwa heiße Quellen in der Tiefsee. Die Lebensgemeinschaften an solchen dunklen, heißen Orten bestehen aus vergleichsweise wenigen Arten, die aber wiederum perfekt an die extremen Bedingungen angepasst sind.
Die Lebensgemeinschaften mariner Ökosysteme ändern sich ständig. Diese Änderungsprozesse sind normal und sichern die Widerstandskraft des Ökosystems. So ist es ganz natürlich, dass Arten ein- und abwandern oder in einigen Fällen sogar aussterben.
Wenn neue Arten einwandern
Die Einwanderung fremder Arten kann angestammte Lebensgemeinschaften stark beeinflussen und sogar aus dem Gleichgewicht bringen. Aber nicht jeder Neuling ist schädlich: Der in die Nordsee eingeschleppte Japanische Beerentang (Sargassum muticum) beispielsweise hat sich schadlos in das Ökosystem des Wattenmeeres eingefügt. Der aus Asien stammende Borstenwurm Polydora websteri hingegen bohrt die Schalen von Austern an und gilt daher als Muschelschädling.
Besonders gefährlich sind sogenannte invasive Arten. Das sind neue Arten in einem Lebensraum, die dort keine Feinde vorfinden und sich ungebremst vermehren können. Teilweise so stark, dass sie alle Ressourcen für sich beanspruchen und einheimische Arten verdrängen. Ein Beispiel ist hier die Pazifische Auster (Crassostrea gigas) in der Nordsee.
Forschungsergebnisse aus der Nord- und Ostsee belegen, wie dynamisch die Lebensgemeinschaften des Meeres auf Neulinge reagieren können und oft bereichert werden. Es gibt allerdings auch klare Verlierer der Artenverschiebung. Zum einen jene Arten, die der Konkurrenz von Neulingen nicht standhalten und verdrängt werden. Zum anderen können die neuen Arten aber auch im Lebensraum unbekannte Krankheiten einschleppen und sie auf die alteingesessenen Individuen übertragen. Wenn diese keinen eigenen Abwehrmeachanismus haben oder entwickeln können, sterben sie massenhaft und verschwinden aus dem Lebensraum.
Eingeschleppte und eingewanderte Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen verändern seit Jahrhunderten das Leben in den Meeren. Welche Auswirkungen haben solche Neuansiedlungen für die Biodiversität? Dieser Fokus informiert über Herkunft und Bedeutung gebietsfremder Arten im Meer.
Artensterben — in geringer Zahl ganz natürlich
Zu den Änderungsprozessen von Ökosystemen gehört auch, dass Tier- und Pflanzenarten aussterben. Es ist ein natürlicher Bestandteil der Evolution des Lebens auf der Erde. Verschwindet eine Art, übernehmen in der Regel neue oder andere Arten deren Aufgaben und Funktionen. Diese Anpassung aber dauert. Der Mechanismus funktioniert deshalb so lange gut, wie sich die Aussterberate in einem normalen Rahmen bewegt. Das heißt: So lange innerhalb von 100 Jahren maximal eine von 10.000 Arten ausstirbt.
Steigt die Zahl der verschwindenden Arten weit darüber hinaus, steuert die Welt auf ein Massenaussterben zu. Als solches bezeichnet man Phasen, in denen rund 75 Prozent aller lebenden Arten innerhalb eines kurzen geologischen Zeitraumes (meist weniger als 2 Millionen Jahre) verschwinden, ohne dass die Funktionslücken, die sie hinterlassen, durch andere Arten geschlossen werden. Das letzte Massenaussterben datiert auf die Zeit vor 66 Millionen Jahren zum Ende der Kreidezeit, als die Dinosaurier verschwanden.
Das sechste Massensterben
Aktuell kündigt sich das sechste Massensterben der jüngeren Erdgeschichte an: Infolge menschlicher Eingriffe in die Natur und in das Klima der Erde ist die Aussterberate im Vergleich zu vormenschlicher Zeit um das 100- bis 1000-Fache gestiegen. Etwa eine Million Arten sind derzeit vom Aussterben bedroht, viele Arten in Teilen ihres angestammten Territoriums heute schon nicht mehr zu finden.
Alarmstufe Rot heißt es auch für das Meer. Neue Forschung belegt: Sollten die Temperaturen in Atmosphäre und Meer weiter ansteigen, werden die Artenverluste infolge von Hitzestress und Sauerstoffmangel im Meer innerhalb der kommenden 75 Jahre genauso groß sein wie die Verluste durch Überfischung, Verschmutzung und Lebensraumzerstörung. In der Summe würden bei einem globalen Temperaturanstieg von bis zu 4,9 Grad Celsius bis zum Ende dieses Jahrhunderts so viele marine Arten aussterben, dass die Definitionsbedingungen eines Massenaussterbens erfüllt sind.
Um die Ökosysteme der Meere und Ozeane zu bewahren und die Artenvielfalt zu erhalten, ist ein gutes Management der Meere unerlässlich. Schutzgebiete dürfen nicht nur auf dem Papier existieren, sondern das Einhalten der Regeln muss auch kontrolliert sowie Verstöße sanktioniert werden. Dann haben wir die Chance, ein Massensterben zu verhindern.
- World Register of Marine Species - https://www.marinespecies.org/
- Bouchet, P., et al., 2023. Marine biodiversity discovery: the metrics of new species descriptions. Frontiers of Marine Science, doi:10.3389/fmars.2023.929989
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- Díaz, S., & Y. Malhi, 2022. Biodiversity: Concepts, Patterns, Trends, and Perspectives. Annual Review of Environment and Resources, doi:10.1146/annurevenviron120120054300
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