Ökosysteme sind wandlungsfähig. Sie verändern sich intern ständig, das ist überlebenswichtig und erhöht ihre Widerstandskraft. So können sie auch dem Druck, der durch den Klimawandel und die Eingriffe des Menschen entsteht, bis zu einem gewissen Grad standhalten. Wird diese Belastungsgrenze jedoch überschritten, kann sich die Struktur der Lebensgemeinschaften plötzlich und unerwartet grundlegend verändern. Die Folge: Die Gemeinschaft kann viele ihrer Funktionen nicht mehr erfüllen und es entstehen zumeist sehr große, kaum zu reparierende Schäden. Fachleute bezeichnen das Überschreiten der Belastungsgrenzen als ökologischen Kipppunkt oder drastischen Ökosystemwandel.
Wenn Lebensgemeinschaften zusammenbrechen
Prominente Beispiele sind das Zusammenbrechen von Fischpopulationen, nachdem sie zu lange zu stark befischt wurden. Oder das Bilden schädlicher Algenblüten und sauerstoffarmer Zonen in Küstengewässern, nachdem zu viele Nährstoffe von Land eingetragen wurden. Oder das hitzebedingte Absterben der tropischen Korallenriffe.
Wo Korallen verschwinden, fehlen den Lebensgemeinschaften der Riffe fortan die Existenzgrundlagen wie Schutz und Nahrung. Andere Organismen, zumeist Algen, siedeln sich an. Deren Vielfalt und Funktionen aber sind in der Regel völlig andere als jene der artenreichen Korallenriffe. Oft nimmt im Zuge dessen auch die Wasserqualität ab. Die neuen, von Algen dominierten Lebensgemeinschaften bieten deutlich weniger Fischen eine Heimat und schützen die Küsten auch nicht so wirksam vor der zerstörerischen Kraft der Wellen, wie das echte Riffe aus Steinkorallen tun.
Wenn Arten einwandern
Ein Beispiel aus der Nordsee: Dort wird seit den 1960er Jahren als Ersatz für die in den 1920ern ausgestorbene Europäische Auster die robustere Pazifische Auster gezüchtet und als Delikatesse vermarktet. Die Larven der Pazifischen Auster schwimmen frei im Meer und werden daher mit den Meeresströmungen aus den Muschelzuchten herausgetrieben. Im Wattenmeer konkurrieren sie nun mit den heimischen Miesmuscheln um die besten Siedlungsplätze am Meeresboden. Mittlerweile gibt es nahezu keine Miesmuschelbank ohne Bewuchs der Pazifischen Auster mehr. Viele werden inzwischen von den großen Austern dominiert und kleine Miesmuscheln siedeln zwischen ihnen – mit Folgen beispielsweise für muschelfressende Vögel, die große Austern nicht knacken können.
Fokusthema: Gebietsfremde Arten
Eingeschleppte und eingewanderte Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen verändern seit Jahrhunderten das Leben in den Meeren. Welche Auswirkungen haben solche Neuansiedlungen für die Biodiversität? Dieser Fokus informiert über Herkunft und Bedeutung gebietsfremder Arten im Meer.
Frühwarnzeichen erkennen
Wie schnell ein Ökosystem auf einen Kipppunkt zusteuert, hängt von seiner Widerstandskraft ab. Diese wiederum speist sich aus drei Faktoren:
- aus der Artenvielfalt der Lebensgemeinschaft;
- aus der Frage, wie viele Arten ähnliche ökologische Funktionen erfüllen (stirbt eine Art aus, kann unter Umständen eine andere die Funktion übernehmen);
- aus der Komplementarität zwischen den Arten, das heißt den Unterschieden in der Art und Weise, wie die Arten diese Aufgaben erfüllen.
Behalten Fachleute diese drei Faktoren mithilfe von Langzeitbeobachtungen im Auge, lassen sich sowohl Hinweise auf die Widerstandskraft eines Ökosystems ableiten als auch Frühwarnzeichen für das Erreichen eines Kipppunktes.
Auf deren Grundlage können dann Schutzmaßnahmen entwickelt werden, mit denen der menschengemachte Druck auf das jeweilige Ökosystem reduziert, seine Widerstandskraft gestärkt und ein Zusammenbruch der der angestammten Lebensgemeinschaft hoffentlich verhindert werden kann.
Erholung für die Natur
Wie umfassend sich Ökosysteme erholen können, wenn der Mensch seine Eingriffe umfassend reduziert, zeigt sich am Beispiel des Wattenmeeres. Seitdem vor mehr als 30 Jahren große Teile des Küstenmeeres zum Nationalpark erklärt und strenge Schutzauflagen eingeführt wurden, erholen sich Naturräume und Artenvielfalt des Wattenmeeres. Salzwiesen werden nicht mehr beweidet, die Muschelfischerei wurde eingestellt sowie das Einbringen von Abfällen und Schadstoffen in die Nordsee gestoppt oder reduziert. Zum Wohle der Natur.
Aber nicht nur. Denn von den Maßnahmen profitiert auch die Küstenbevölkerung: Berechnungen zufolge generiert der Nationalpark eine regionale touristische Wertschöpfung von jährlich 89 Millionen Euro. Er schafft und sichert demnach rechnerisch rund 4.700 Arbeitsplätze.
Marine Biodiversität
Der World Ocean Review "Marine Biodiversität – das vitale Fundament unserer Meere" (WOR 9) beschreibt die immense Artenvielfalt in den Ozeanen und ihre Leistungen für die Menschen. Beleuchtet werden auch der Rückgang des Artenreichtums und Möglichkeiten zu erfolgreichem Schutz.
- Nationalpark Wattenmeer (2023). Erfolge - 14. Nationalpark als Wirtschaftsfaktor. www.nationalpark-wattenmeer.de/wissensbeitrag/erfolge/